Tungendorf Archiv - Tungendorfer Geschichten - Persönlichkeiten - Dr. Herbert Möbius
Dr. Herbert Möbius ganz am Anfang seiner beruflichen Laufbahn.
Herbert Möbius mit seiner Ehefrau Hanne vor dem Haus in der Kieler Straße 293, das zugleich Wohnung und Praxisräume beherbergte. 
Alle Fotos: Henning Möbius
Aus Liebe zu den Menschen
Dr. Herbert Möbius, Arzt in Tungendorf 1947–1974

Seine Hingabe an die Arbeit und seine Liebe zu den Menschen bestimmten sein Leben – als Mediziner und als Mitmensch. Nach vielen Jahren in Tansania, wo er seinen Traum leben konnte, kehrte mein Vater, Dr. Herbert Möbius, mit seiner großen Familie 1947 nach Neumünster-Tungendorf zurück, um dort eine Hausarztpraxis zu eröffnen und seinen vielen Berufungen nachzugehen.   

Als ältester Sohn des Verlagsdirektors Karl Möbius und dessen Ehefrau Maria erblickte mein Vater Herbert am 15. April 1906 in Tungendorf, Kieler Chaussee 93, das Licht der Welt. Aus einer grenzenlosen Liebe zu den Menschen heraus fasste er schon als Jugendlicher den Entschluss, Missionsarzt zu werden. Sein Medizinstudium absolvierte er in Wien, Innsbruck, Tübingen und Kiel, und als Assistenzarzt vollendete er seine Ausbil-dung in Neumünster und Backnang (Württemberg). Dort lernte er auch seine Frau Hanne kennen. Seine erste berufliche Station nach der Ausbildung führte ihn 1934 schließlich nach Brokstedt, wo er zwei Jahre mit großem Engagement als Landarzt tätig war. 

Tansania ruft 
Kaum mit der Landbevölkerung warmgeworden, ereilte mein Vater der Ruf nach Afri-ka. Dort sollte er in Tanganjika, heute Tansania, ein Missionskrankenhaus überneh-men. Es lag in den Usambarabergen in 1200 m Höhe und stellte große Anforderungen an sein noch wenig erprobtes ärztliches Können. Da es im Land keinerlei Spezialisten oder Fachkrankenhäuser gab, musste er alles tun, was die Situation gerade erforderte, auch dann, wenn er über keinerlei spezielle Erfahrungen dafür verfügte. Mithilfe guter Fachbücher und assistiert von einer erfahrenen Operationsschwester hat er sich mit Bangen und Zagen selbst an schwierige Operationen gewagt – mit viel Erfolg. Für die dort lebenden Eingeborenen und Europäer war mein Vater die letzte Hoffnung. Er war gleichzeitig Internist, Chirurg, Orthopäde, Gynäkologe, Augen- und Tropenarzt und Seelsorger. Aus der weiteren Umgebung kamen vor allem europäische Frauen zu ihm, um in seiner Klinik ihr Kind zur Welt zu bringen. 
Mein Vater lernte Kisuaheli, um sich mit den Menschen besser verständigen zu können und so die Vertrauensbasis zu stärken. Er bildete Medizinische Assistenten und Schwes-tern aus und versorgte Patienten im Hospital, in den Außenstationen und den Aussätzi-gen- und Geisteskrankenstationen. Er leitete Andachten, Gottesdienste, Feste und machte Arztbesuche in den Dörfern sowohl im Gebirge als auch in der Steppe. Dabei lernten er und meine Mutter auch die Anhänger der Naturreligion und des Islam kennen und achten.
Vier Jahre später, kurz nach Kriegsausbruch in Europa 1939, wurde er zusammen mit allen anderen Deutschen von den Engländern interniert. Patienten und Mitarbeiter waren fassungslos, dass man ihnen ihren Arzt und Helfer in allen Lebenslagen entzog. Der Abschied dauerte stundenlang, und der englische Offizier, der eigentlich nur eine halbe Stunde eingeräumt hatte, musste ewig warten. Wenig später wurde auch meine Mutter mit uns vier Kindern verhaftet und in ein anderes, 1000 Kilometer entferntes Internierungslager gebracht. Erst 1942 wurden wir wieder in einem Lager vereint. Grund dafür war ein verheerender Brand des Lagerkindergartens, bei dem neben dem jüngsten Mitglied unserer Familie auch zehn weitere Kindern ums Leben kamen. In den Lagern hielt mein Vater Vorträge und arbeitete wieder als Arzt, mit Erlaubnis der Lagerleitung auch in der näheren Umgebung. 
Im Juni 1947 kamen meine Eltern mit uns sechs Kindern in der völlig zerstörten Heimat an. Drei Jahre lang wohnten wir beengt in einem Tungendorfer Behelfsheim. Seine erste Praxis richtete mein Vater in einer Garage in der Kieler Straße ein, später dann in dem wiederaufgebauten rückwärtigen Teil seines Elternhauses, seinem Geburtshaus Kieler Straße 293. 

Hausarzt für Körper und Seele
Die Patienten besuchte er mit dem Fahrrad, später mit der Vespa, dann mit dem Auto. (Mein peinlichstes Erlebnis viele Jahre später: Ich hatte mir vom Vater das Auto gelie-hen und es nicht verabredungsgemäß zurückgebracht. So traf ich auf der eiligen Rück-kehr meinen Vater auf dem Fahrrad, die Arzttasche auf dem Gepäckträger, an.) Daneben betreute er Altersheime in Boostedt, im Hahnknüll und in Rickling. Jahrelang war er Betriebsarzt im Ausbesserungswerk der Bundesbahn.
Zwar anders als in Afrika, so war doch seine ärztliche Tätigkeit auch hier sehr vielseitig. Hunderten von Tungendorfer Kindern half mein Vater auf die Welt. Unzählige Menschen begleitete er durch Höhen und Tiefen ihres Lebens. Er war eben der Haus-arzt, der für alles zuständig ist, was den Körper und die Seele betrifft. Heute spricht man von einer ganzheitlichen Sichtweise. So wurde er als Berater und Seelsorger bei Eheproblemen, Erziehungsschwierigkeiten, Drogen- und Alkoholsucht zu Rate gezogen. Ein Patient, den er auf dem Weg aus seiner Alkoholabhängigkeit jahrelang begleitet hatte, hat unserer Familie bis ans eigene Lebensende seine Dankbarkeit bekundet. Oft war das Wartezimmer voll, und dennoch nahm er sich für jeden Menschen die nötige Zeit. Auch wurde er als Ersthelfer zu schlimmen Unfällen aus der Praxis gerufen, da es den Notarzt noch nicht gab. 
Eine besondere Aufgabe meines Vaters waren die Hausbesuche bei den Alten und Kranken, die er auch noch im Sterben begleitete. „Wenden Sie sich doch bitte dem Sterbenden zu, statt nebenan vor dem Fernseher zu hocken“, hat er einmal eine Fami-lie aufgefordert. Feinfühlig, wie er war, spürte er, wenn ein Kranker mehr als medizinische Hilfe suchte. So hat er nicht selten mit seinen Patienten an ihrem Bett gebetet. Wenn seine Zeit es zuließ, hat er sie auch auf dem allerletzten Wege auf dem Friedhof begleitet. Dabei bekümmerte es ihn, wenn die Abschiedspredigt von großem Unwissen über die Lebensverhältnisse der Verstorbenen zeugte. 
Wenn er nachts aus dem Bett geklingelt wurde, zog er sich klaglos Hose und Mantel über, um zu den Kranken zu eilen. Diese bemerkten durchaus, dass unter seinen Hosenbeinen noch der Schlafanzug hervorschaute. Wenn er aber durch die Nachtglocke gerufen wurde wegen Völlegefühls nach übermäßigem Weihnachtsessen oder Übelkeit nach zu viel Alkoholgenuss an Silvester oder mit der Klage „Herr Doktor, ich kann nicht schlafen, weil ich so ein Jucken zwischen den Zehen habe,“ dann hat er schon mal seinem Ärger Luft gemacht. Insgesamt jedoch war er getrieben von steter Liebe zu den Menschen. In einem Brief schrieb er einmal, er sei in keiner Richtung überdurchschnittlich begabt, was er aber früh gemerkt habe, sei, dass Gott ihn mit einer großen Liebe zum Menschen beschenkt habe. 

Gesellschaftliches und kirchliches Engagement
Diese Liebe zu den Menschen beflügelte meinen Vater auch außerhalb des Wartezim-mers. Sie trieb ihn, beim Aufbau des zerschundenen Deutschlands mitzuhelfen, indem er in die CDU eintrat und sich dort engagierte. Er war stets umfassend über gesell-schaftliche Entwicklungen informiert. Auch seine Fähigkeit zur Leitung in der Jugendarbeit kam nach dem Krieg wieder zum Tragen. So übernahm er für zehn Jahre die verantwortungsvolle Landesleitung der Christlichen Pfadfinder. Bei Bundeslagern mit über 3000 Kindern und Jugendlichen war er in seinem Urlaub der Lagerarzt. Ganz zu Hause fühlte er sich in der „Gemeinschaft in der Evangelischen Kirche“ in der Kloster-straße. Daneben aber arbeitete er zielführend am Aufbau der Tungendorfer Kirchen-gemeinden mit. Bei schwierigen Differenzen konnte er vermitteln. Oft setzte sich dann sein Weitblick durch. 
Unsere Familie war inzwischen auf zehn gesunde Kinder angewachsen. Das Mammut-Projekt einer so großen Familie war seine zweite Baustelle nach dem Beruf und seinen vielen Berufungen. Bei der geringen verbleibenden Zeit konnte er dem nur gerecht werden, weil unsere Mutter, seine Frau Hanne, mit Leib und Seele Hausfrau und Mut-ter war. Dennoch brachte er auch hier viel Fantasie, Erziehung, Bildung und Liebe ein und führte mit ihr zusammen ein bekannt gastliches Haus.

Sein letzter Dienst
Am 19. Juni 1974 trat mein Vater seinen letzten Dienst an einer Patientin an. Da er sie in eine Klinik überweisen musste, wollte er dringend vor Ort mit den Ärzten über seine Vorstellungen für die Behandlung sprechen. So fuhr er mit. Der Krankentransport prallte unterwegs in der Nähe von Plön ungebremst gegen einen Baum. Die Patientin, ihre Begleiterin und ihr Arzt mussten ihr Leben lassen.
Dass ihr sehr geschätzter Arzt so ums Leben kommen musste, konnten seine Tungen-dorfer Patienten nicht fassen, manche bis heute nicht. Kein Dr. Möbius in der Praxis, keiner, der Besuche macht. Auch für seine geliebte Ehefrau und uns Kinder war es ein harter Schlag. Er war erst achtundsechzig Jahre alt und hatte den Gedanken ans Aufhören immer vor sich hergeschoben. Die Trauergemeinde war schier unübersehbar. 
Bei den vergeblichen Versuchen, einen Nachfolger zu finden, zeigte sich, wie spartanisch und veraltet die Praxis eingerichtet war. Es waren noch nicht die vielen technischen Hilfsmittel gewesen, die meinen Vater einen guten Arzt hatten sein lassen, sondern es waren seine lange Erfahrung, seine stetige Fortbildung, seine Hingabe an die Arbeit, seine innere Zuwendung zum Patienten und sein Glaube, die vieles wettge-macht haben, was jüngeren Berufskollegen an neuen Methoden und Erkenntnissen inzwischen zur Verfügung steht. Eine neue Zeit in der medizinischen Versorgung war angebrochen. 

Die menschlichen Qualitäten eines Arztes aber sind weiterhin gefragt. 

Henning Möbius
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