Tungendorf Archiv - Tungendorfer Geschichte - Geschichte des Volkshauses
Volkshaus Tungendorf:
Vor 100 Jahren fiel der Startschuss!

Viele gibt es nicht mehr. Doch „unser“ Volkshaus, dessen Bau im Mai 1919 begonnen und im Juli 1922 endlich vollendet war, steht fest an seinem Platz – trotz aller Widrigkeiten. Das architektonische Schmuckstück inmitten unseres Stadtteils hat im Laufe seiner knapp hundertjährigen Geschichte so manches durchgemacht. Werfen wir aber erst mal einen Blick über den Tungendorfer Tellerrand und sehen uns an, was die Gemeinde Anfang des 20. Jahrhunderts inspiriert hat, ein Jugendheim bzw. ein wahrlich prunkvolles Volkshaus dieser Größenordnung zu bauen. 

Damit vorab eines klar ist: Volkshaus ist nicht gleich Volkshaus, und Volksheim ist nicht gleich Volksheim. 

Hand aufs Herz: Angenommen, Sie hätten vor 130 Jahren als wohlhabender Bürger in der britischen Hauptstadt gelebt, wären Sie dann in einen Slum gezogen, um benachteiligten und unwürdig hausenden Menschen Hilfe zur Selbsthilfe zu bieten? In eine Gegend, in der ein gewisser Jack the Ripper serienmäßig Morde verübte? Wohl kaum, denn Sie sind ja nicht lebensmüde. Der sozial engagierte Pfarrer Samuel Barnett (1844–1913) und seine Frau Henrietta ließen sich davon allerdings nicht abschrecken. Sie wählten 1884 bewusst das Elendsviertel im Osten Londons aus, um sich dort niederzulassen und mit Mitstreitern „Toynbee Hall“ zu gründen. Das erste Nachbarschaftsheim sollte zum Ausgangspunkt der internationalen Settlement-Bewegung werden. Was motivierte das Ehepaar und seine Anhänger, und was waren ihre Ziele? Grundgedanke des Settlements war, dass Menschen aus dem wohlhabenden und gebildeten Bürgertum aus humanitären Gründen in die Wohnquartiere der Armen ziehen sollten, um mit ihnen zusammen in Nachbarschaft zu leben und ihnen etwas von dem abzugeben, dessen Besitz ihr Privileg war: Wissen und Bildung. Die Bewohner Toynbee Halls, meist gut betuchte Akademiker, begriffen ihr ehrenamtliches Engagement als eine Art „Soziales Jahr“; sie wollten von der Gesellschaft „Verlassenen“ ihre menschliche Sympathie bekunden, ihnen Kultur näherbringen, Erwachsenenbildung betreiben und dabei selber ein sozial gerechteres Verhalten lernen. Schließlich ging es ihnen auch darum, politische Reformen herbeizuführen. Der radikale sozialreformerische Gedanke zündete: Nur ein paar Jahre später gab es bereits Hunderte von Nachbarschaftshäusern in mindestens zwölf Ländern, u. a. das Hull House in Chicago, dessen Mitbegründerin Jane Addams (1860–1935) 1931 Trägerin des Friedensnobelpreises wurde. Fast alle hatten ihre Gründungsimpulse von Toynbee Hall erhalten und wurden zum Vorbild für viele Volkshäuser und Volksheime, in denen vielseitige Unterrichtsveranstaltungen mit Unterhaltungs- und Erholungsangeboten abwechselten. Die Settlement-Bewegung gilt innerhalb des anglikanischen Sozialwesens und der Gemeinwesenarbeit als grundlegend.

„Ihr Bestes mit den Armen teilen“
Das erste Nachbarschafts- oder Siedlungshaus auf deutschem Boden gründete 1901 eine Gruppe wohlhabender Männer, unter ihnen der angehende Prediger und Pädagoge Walther Classen (1874–1954). Classen hatte ein halbes Jahr in Toynbee Hall gelebt und war über den „Geist wahren Christentums“ und die „vornehme und ehrbare Haltung“ derjenigen Angehörigen der Oberklasse, die bereit waren, „ihr Bestes mit den Armen zu teilen“, so beeindruckt, dass er auch in Hamburg eine Brücke zwischen gebildetem Bürgertum und notleidender Arbeiterschaft schlagen wollte. Doch Hamburg war nicht London, die Klassenwidersprüche waren sichtbar, aber nicht so extrem wie in der britischen Metropole. Es gelang Walther Classen nicht, Mitstreiter für seine Idee eines echten Settlements zu gewinnen, also änderte er kurzerhand sein Konzept. Im Arbeiterviertel Hammerbrook (später auch in Rothenburgsort) begründete er eine Art Gemeinwesen-Zentrum, dem er den Namen „Volksheim“ gab. Dieses sollte vor allem ein Ort der Erholung und Bildung sein – mit einem besonderen Schwerpunkt auf Kinder- und Jugendarbeit. Classen erhielt die Nutzungserlaubnis für einige Räume in einem Geschäftsgebäude und war damit gezwungen, auf die Wünsche seiner Sponsoren Rücksicht nehmen. Diese versuchten immer wieder auf die Programmgestaltung Einfluss zu nehmen, um zu verhindern, dass im Volksheim politische Debatten veranstaltet würden – übrigens ein wesentlicher Bestandteil der Toynbee-Hall-Kultur. Die Hamburger-Volksheim-Gönner, hanseatische Fabrikbesitzer und Kaufleute, fürchteten, solche politischen Debatten könnten zur Verbreitung aufrührerischen sozialdemokratischen Gedankengutes führen. 

Volkshäuser der Arbeiter
In bildungsbürgerlichen Kreisen herrschte die Auffassung, dass die Pflege des guten Geschmacks im Alltag auch dem einfachen Volk nicht vorenthalten bleiben sollte, zumal sie sich mit ethisch-sittlichen Zielen verbanden. Dafür mussten Gebäude her. Einer der ersten, der sich daranmachte, war der Begründer der Volksheim-Bewegung, Victor Böhmert, ein typischer Repräsentant des philantropisch gestimmten, engagierten Bürgertums und ein Gegner des Sozialismus. Wie viele seiner Zeitgenossen sah er in der sozialen Frage weniger ein politisches oder ökonomisches Problem als eine „Geselligkeitsfrage, eine Frage der persönlichen Beziehungen von Mensch zu Mensch, eine Bildungs- und Erziehungsfrage“. Doch organisierte Arbeiter wollten sich zum einen nicht verbieten lassen, sich mit ihren Kumpels zum Reden oder Skatspielen auf ein oder zwei Bier in der Kneipe zu treffen, zum anderen wollten sie sich nicht den Mund verbieten lassen. Da die Gewerkschaften nach Aufhebung des Sozialistengesetzes – das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie – rasch an Einfluss gewannen, mieteten, pachteten oder erwarben diese seit 1900 in ganz Deutschland (und Europa) Häuser, in denen die Arbeiterorganisationen nicht nur ihre Geselligkeit pflegen, sondern sich auch politisch versammeln und debattieren konnten. Auch diese Zentren des sozialdemokratischen Milieus wurden „Volkshäuser“ genannt, manchmal mit Zusätzen wie „Zum Mohren“ oder „Roter Adler“ – ein Zeichen dafür, dass eine ehemalige Gastwirtschaft zum Volkshaus geworden war. Viele gewerkschaftliche Volkshäuser entstanden zwischen 1905 und dem Ersten Weltkrieg, ihre Zahl wuchs rasch: 1901 existierten elf, 1913 bereits 83, 1920 dann 91 und 1929 gar 184.

„Sozialarbeit“ in Tungendorf
Seit 1900 waren soziale Missstände, die mit dem rasanten Wachstum von Industrie und Bevölkerung in Neumünster einhergingen, verstärkt auch in der Nachbargemeinde Tungendorf, in dem durch den Zuzug vieler Arbeiter und Arbeiterinnen im Jahr 1919 bereits 3263 Menschen zu Hause waren (um 1900 waren es gerade einmal 1000), spürbar. Während die Schulbehörde den Bau einer neuen Turnhalle plante, um die Jugend „zu ertüchtigen“ und „charakterlich zu stärken“, benötigte der Verein Frauenhilfe Räume für eine Warteschule (so hieß damals der Kindergarten), die Volksbibliothek Platz für Bücher und geeignete Lesemöglichkeiten. Um gewisse Mindeststandards bezüglich Gesundheit, Wohnen und Sozialer Fürsorge sicherstellen zu können, musste die Gemeinde sich ganz neuen Bauaufgaben stellen. Wenn Schulrektor Rudolf Tonner (1876–1946) in gemeinsamer Anstrengung mit der Gemeindevertretung und der Schulbehörde alles unternahm, um in der aufstrebenden Arbeitergemeinde ein Heim für die Jugend zu realisieren und alle wichtigen Wohlfahrteinrichtungen in diesem Gebäude zu bündeln, ließ er sich sicher auch von Settlement-Bewegung und anderen Volksheimen inspirieren – ausgenommen die Arbeiter-Volkshäuser. In seinen Erinnerungen schreibt er über seine Motivation: „Zum praktischen Sozialismus gehört das, was man in alten, geschlossenen Dörfern die Nachbarhilfe nennt. Mein Wille, das soziale Denken sich in der Fürsorge für die Mitmenschen auswirken zu lassen und solches nur um der Sache selber willen zu tun, also frei und ohne Bindung an irgendwelche politischen Richtungen und Parteien zu arbeiten, gab unseren Bemühungen ihre Tragfähigkeit.“ 1916 bekam die Gemeinde eine 3,5 ha große Koppel geschenkt, die Idee des Jugendheims, an dem schon jahrelang „gebastelt wurde“, nahm trotz des Krieges Fahrt auf. Baupläne und Kostenanschläge wurden erstellt, Förderungsgelder beantragt. Der Erste Weltkrieg und die schwierige Finanzierung verzögerten jedoch Baubeginn und Fertigstellung des imposanten Projekts. Erst im Mai 1919 begannen die Ausschachtungsarbeiten. Ein Jahr später konnte der Nordflügel mit der Volksbibliothek, die Fortbildungsschule für Mädchen und der Hauswirtschaftsküche bezogen werden, im Keller standen Wannen- und Duschbäder für die Tungendorfer bereit, im Obergeschoss Wohnungen für die Mitarbeiter. Und die Turnhalle? Und der Festsaal? Südflügel und Hauptbau konnten erst in Angriff genommen werden, nachdem die Regierung in Berlin zusätzlich 500.000 Reichsmark zur Verfügung stellte. Und so wurden Südflügel und Mittelbau im Juli 1922 feierlich eröffnet – im Südflügel fanden Kreiswaisenheim und Warteschule ihren Platz, die Turnhalle im Mittelbau war zugleich Festsaal. 

Annerose Sieck, die Archivgruppe
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